Autor: Pascal Najadi – 06/09/2022
Wer die Schweizer Neutralität schätzt, kann sich von ihr verabschieden.
Die Demontage unseres jahrhundertealten Fundaments hat leider begonnen. Schauen Sie sich nur an, wie sich unser Land zum Krieg in der Ukraine positioniert hat.
Kurz nach Beginn der Feindseligkeiten sagte Bundespräsident Ignazio Cassis öffentlich zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenski:
“Wir sind beeindruckt von dem Mut, mit dem Ihr Volk für Freiheit und Frieden kämpft”, und,
“Wir sind beeindruckt von der Art und Weise, wie Sie die Grundwerte der freien Welt, die auch unsere Grundwerte sind, verteidigen”.
Seine Äußerungen spiegeln die weit verbreitete Ansicht wider, dass die russische Invasion in der Ukraine tödlich, zerstörerisch und störend war – und dass sie unnötig war. Überall in unserem Land wehen ukrainische Flaggen aus Solidarität. Es wurden Pro-Ukraine-Demonstrationen organisiert. Laut Swissinfo.ch nahmen in Zürich schätzungsweise 40’000 Personen teil, in Bern waren es bis zu 20’000 Personen. Die emotionale Dimension des Krieges lässt sich nicht leugnen.
Darüber hinaus sind die Äußerungen des Bundespräsidenten aber auch mit Vorurteilen behaftet. Diese lassen sich am besten erkennen, wenn wir in seine Äußerungen eine russische Voreingenommenheit einbauen.
Hier sind hypothetische Bemerkungen, die Präsident Cassis gegenüber Präsident Wladimir Putin gemacht haben könnte:
“Wir sind beeindruckt von dem Mut, mit dem Ihr Volk angesichts des feindlichen Vorrückens der NATO an Ihre Grenzen für Sicherheitsgarantien kämpft”, und,
“Wir sind beeindruckt von der Art und Weise, wie Sie sich gegen die Ausbreitung des Neonazismus im modernen Europa wehren, eine Sache, die mit unseren Grundwerten übereinstimmt”.
Das spiegelt eindeutig die russische Seite wider. Jede Sichtweise hat ihre eigenen Annahmen. Eine neutrale Haltung wäre, keine von beiden zu bevorzugen. Aber das ist nicht der Weg, den die Schweiz gewählt hat. Unsere Regierung hat in einer Weise gehandelt, die auf Parteilichkeit und nicht auf Neutralität schließen lässt.
Ein weiteres Beispiel ist die “Ukraine Recovery Conference”, die von den Präsidenten Cassis und Zelensky einberufen wurde. Sie fand im Juli in Lugano statt. Nach Angaben der Organisatoren nahmen über 1000 Personen daran teil, darunter 5 Staats- und Regierungschefs, 23 Minister und 16 stellvertretende Minister”.
Es steht außer Frage, dass die Ukraine irgendwann Hilfe beim Wiederaufbau benötigen wird. Aber es gibt hier ein implizites Vorurteil, das leicht übersehen werden kann. Es geht darum, dass es in diesem Krieg einen Gewinner und einen Verlierer geben muss, und dass Russland der mutmaßliche Verlierer ist. Das schließt die Möglichkeit einer für beide Seiten akzeptablen Lösung aus. Stattdessen wird die Dominanz der einen Seite über die andere gefordert.
Der Präsident sollte sich den Ernst der Lage vor Augen führen. Wir haben es hier nicht mit einem regionalen Konflikt auf dem Balkan zu tun. Es ist nicht wie der Kampf der baltischen Führer, ihre Länder von den Überbleibseln der Sowjetzeit zu befreien. Es handelt sich um einen Konflikt, in dem sich Russland und die Vereinigten Staaten gegenüberstehen. Sie sind die einzigen herausragenden nuklearen Großmächte, die in der Lage sind, der Welt großen Schaden zuzufügen. Sollte es nicht gelingen, eine wirklich friedliche Lösung für die Ukraine zu finden, könnte dies realistischerweise zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs führen – und angesichts der Voreingenommenheit von Bundespräsident Cassis wäre die Schweiz wahrscheinlich ein Kriegsteilnehmer. Wollen wir so weit kommen?
Als der Bundespräsident die Ukraine für ihren Kampf um Frieden lobte, war er nicht ehrlich. Die Umstände sprechen eher dafür, dass es ihm um Dominanz und nicht um eine friedliche Lösung ging.
Die Befürwortung von Dominanz ist keine neutrale Position. Es ist eine gefährliche Position. Die Handlungen unseres Präsidenten sind dem Schweizer Erbe nicht angemessen. Er sollte es schützen und nicht zerstören.
Eine konstruktive Haltung der Schweiz wäre es, sich auf unsere Neutralität zu berufen und einen wirklich friedlichen Frieden zu suchen. Das wäre die Schweizer Art zu handeln.
Stattdessen sehen wir unter Cassis’ Führung immer mehr Luxusautos mit ukrainischen Nummernschildern auf unseren Strassen: BMWs, Mercedes, Bentleys. Man fragt sich, wie viele von deren Besitzern nun bei uns Status-S-Leistungen beziehen.
Eine Schweiz, die ihren Wurzeln treu bleibt und zu ehrlicher Neutralität zurückkehrt, könnte eine wichtige Rolle spielen, um den Krieg in der Ukraine friedlich zu beenden.
Eine Verschärfung des Krieges ist nicht die Lösung, um den Krieg zu beenden. Einfach mehr Waffen in die Ukraine zu schicken, ist keine Lösung. Es ist vielmehr eine eskalierende Maßnahme.
Eine wirklich friedliche Lösung muss durch Diplomatie gefunden werden, nicht durch die Förderung von mehr Tod und Zerstörung.
Frankreich und Deutschland haben gemeinsam einen gescheiterten Versuch unternommen, einen diplomatischen Vorstoß zu unternehmen. Er wird allgemein als die Minsker Vereinbarungen bezeichnet. Sie hatten zunächst den Anschein von Erfolg. Damals, als sich der bewaffnete Konflikt noch auf die Donbass-Region beschränkte, konnten sich Russland und die Ukraine auf einen Waffenstillstand und eine für beide Seiten zufriedenstellende Integration der Donbass-Republiken in die Ukraine einigen.
Beide Unterzeichner warfen sich jedoch anschließend gegenseitig vor, die Vereinbarung nicht umzusetzen. Letztendlich haben Frankreich und Deutschland nichts erreicht, um die Einhaltung der Vereinbarung zu fördern.
Im Nachhinein sollte das nicht überraschen. Sie sind beide NATO-Mitglieder und unterstützen aktiv die Feindseligkeiten. Wenn dies in ihrem Interesse liegt, müssen sie entweder einen gewissen Nutzen daraus ziehen, oder ihr Handeln wäre absoluter Wahnsinn.
Einem NATO-Mitglied die Verantwortung für die Beilegung des Ukraine-Krieges zu übertragen, kommt dem sprichwörtlichen Fuchs gleich, der den Hühnerstall bewachen soll, oder einem Bankräuber, der eine Bank bewachen soll.
Es ist eine Aufgabe für ein wirklich neutrales Land, wie es in der Schweizer Verfassung definiert ist. Dieses Land hat die einmalige Chance, eine zentrale Rolle bei der Beendigung des Krieges zu spielen. Doch mit der neuen Ausrichtung unseres Landes ist diese Chance vertan. Da in der Ukraine so viel auf dem Spiel steht, ist dies ein moralisches Verbrechen ersten Ranges.
Bundespräsident Cassis muss dies unbedingt zur Kenntnis nehmen und seinen Kurs ändern. Hier ist mein Rezept für einen Schweizer Kurswechsel:
1. Sofortige Abkehr von der NATO-orientierten Parteilichkeit.
2. Ziehen Sie Ihre Unterstützung für kriegsbedingte Sanktionen zurück. Cassis hat sich dafür entschieden, die von der EU verhängten Sanktionen zu unterstützen, nicht aber die von Russland. Die Neutralität verlangt, dass die Sanktionen keiner der beiden Seiten beachtet werden.
3. Rückzug aus jeglicher Rolle der Schweiz, die mit der Bereitstellung von Waffen für den Kriegseinsatz verbunden sein könnte.
4. Anerkennen, dass die Entscheidungsträger in diesem Konflikt letztlich Russland und die Vereinigten Staaten sind. Es ist offensichtlich, dass die NATO, die EU und die Ukraine weitgehend im Takt der amerikanischen Trommel marschieren. Die Schweiz sollte sich um die Aufnahme von Verhandlungen mit den Hauptakteuren, Russland und den Vereinigten Staaten, bemühen, die vorzugsweise auf Schweizer Territorium stattfinden sollten.
5. Die Neuverhandlung der Grundprinzipien des Minsker Abkommens, aber diesmal mit Russland und den Vereinigten Staaten als Hauptakteure. Das würde bedeuten, dass ein Waffenstillstand erreicht und ein für beide Seiten akzeptabler Weg gefunden wird, die Donbass-Republiken irgendwie in die Ukraine einzugliedern.
6. Bemühungen um die Beseitigung der von Russland öffentlich geäußerten Sicherheitsbedenken gegenüber der Ukraine, einschließlich des Ausschlusses von Personen aus der ukrainischen Führung, die sich entweder durch Worte oder Taten mit der Neonazi-Ideologie identifizieren.
7. Einholung der Zustimmung Russlands zur Durchführung eines von der Schweiz überwachten Referendums zur Bestätigung des aktuellen Status der Krim.
Die Stunde des Schweizer Handelns hat geschlagen. Es ist eine Gelegenheit, die nicht verpasst werden darf, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Die Schweiz kann in ihrer reichen Geschichte der Vermittlung zwischen sich bekriegenden Staaten erneut eine Insel des Friedens sein.
Dazu muss die Schweiz die Rolle der Neutralität wieder aufnehmen. Nur so können wir die einzigartige Stärke unseres Landes auf der Bühne der internationalen Diplomatie ausspielen.
Dies ist mir aus einer historischen Familienverbindung heraus ein besonderes Anliegen. Mein Urgrossonkel, Rudolf Minger, war im letzten Jahrhundert Bundespräsident der Schweiz. Er war ein starker Beschützer der Unabhängigkeit und Neutralität unseres Landes.
Jetzt ist es eine Minute vor 12, und jede Verzögerung des Handelns erhöht das Risiko einer weiteren Eskalation. Wir befinden uns inmitten eines bereits angespannten Konflikts, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat.
Der Frieden muss über den Krieg siegen. Daran gibt es keinen Zweifel. Die Schweizer Neutralität ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich hoffe sehr, dass Bundespräsident Cassis dies begreift.
Pascal Najadi ist ein ehemaliger Investmentbanker aus der Schweiz. Von 1991 bis 2002 arbeitete er für die Dresdner Bank Gruppe als Head of Emerging Markets in London und beriet führende Regierungen aus Russland, Mitteleuropa, Zentralasien, Afrika und dem Nahen Osten. Seitdem war er strategischer Berater vieler Regierungen und lebt heute dort in der Schweiz im Vorruhestand.